Aufarbeitung in der Geschichte

Wolfgang Böhmer en detail - wider den Schlussstrich


Wolfgang Böhmer, Chefarzt im Paul-Gerhardt-Stift von 1974–1991, späterer Minister und Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt, ist eine Schlüsselfigur in der langwierigen und nicht enden wollenden Aufarbeitung der Geschichte des Paul-Gerhardt-Stifts während der NS-Zeit. Seine Paul Bosse betreffenden Geschichtsfälschungen werden in seinen Schriften gut rekonstruierbar zu einer wirkmächtigen Erzählung. Hierdurch gerät auch die Zeit nach 1974 zunehmend ins Blickfeld. 2010 wird von der Wittenberger evangelischen Kirche der bei der Diakonie angestellte Historiker Helmut Bräutigam mit einem Gutachten beauftragt. Der ursprüngliche  Titel lautete: "Tätigkeit des Vorstandes der Paul-Gerhardt-Stiftung in Wittenberg, 1918-1949". Zwei Jahre später hält uns derselbe Historiker vor, bei unseren Nachforschungen „Böhmer fixiert“ zu sein. Jetzt bekommt dieser Satz eine aktuelle Bedeutung.

Schon 2010 weiß sich der von uns beauftragte Historiker in seinem Gutachten nicht anders zu 'helfen', als Dokumente, die zu sehr der Böhmerschen Sicht widersprechen, uns zwar zu überreichen, diese jedoch bei der Abfassung des Gutachtens nicht zu berücksichtigen. Über sechs Jahre später, bei der Ankündigung des Gutachtens der Evang. Kirche (1) begegnen uns ähnliche Aussagen – und Auslassungen wieder, wie sie unser Historiker in seinem Gutachten wählt. Die Interpretation des erst Ende März 2017 erscheinenden Gutachtens (2) durch die kirchlichen Vertreter atmet ganz den Kompromiß zwischen den Versionen von Böhmer und dem Versuch einer Aufklärung – eine taktische Aufklärung, die sich bemüht, nicht zu lügen, aber auch nicht die (historische) Wahrheit zu sagen. Sie ist „Böhmer fixiert“, indem sie darauf bedacht ist, seinen Namen partout nicht zu nennen, aber laufend von ihm zu sprechen.

Eine reißerische Überschrift „Urteil: Schuldig“ soll verleiten, nicht so genau hinzuschauen. Sonst würde man vielleicht erkennen, dass mit diesem unbarmherzigen Schuldspruch all die freigesprochen werden, die nach 1945 die Geschichtsfälschung weitergetragen haben – und sie noch am Leben halten. Oder anders ausgedrückt: Der Schuldspruch ist so harsch formuliert, dass die, die von der zugespitzten Geschichtsfälschung nach 1983 bis heute profitieren, unkenntlich bleiben. Vergessen wird, dass die zur Zeit des Nationalsozialismus geläufige Darstellung des Rauswurfs von Paul Bosse nichts Ungewöhnliches ist. Hingegen ist das Fortleben der Geschichtsfälschung bis in die heutige Zeit erklärungsbedürftig. Dies kann nicht mit einem inszenierten Schuldspruch, der die Zeit nach 1945 ausblendet, weggewischt werden, so sehr sich die Paul-Gerhardt-Stiftung mit der Ankündigung ihres Gutachtens auch darum bemüht.

Böhmer kommt 1974 nach Wittenberg und übernimmt als Chefarzt die gynäkologisch-geburtshilfliche Station im Paul-Gerhardt-Stift. Sie ist zwei Jahre nach ihrer Gründung 1972 verwaist, der geburtshilfliche Teil ist ausstattungsmäßig in einem mangelhaften Zustand und hat nur zwischen 1/4 und 1/5 der Geburten der benachbarten Bosse-Klinik. Die Situation ist 1973 so verzweifelt, dass das Paul-Gerhardt-Stift ernsthaft daran interessiert ist, der Aufteilung des gynäkologisch-geburtshilflichen Gebietes zuzustimmen: Die gynäkologischen Betten sollen dem Stift und die geburtshilflichen der Bosse-Klinik zugeschlagen werden, eine Aufteilung, die Böhmer später vehement ablehnt. Anfang 1976 überlegt man, sich von Böhmer zu trennen, nachdem erneut Beschwerden von Seiten der Bosse-Klinik eingehen. Böhmer hatte sich 1975 in seiner Abschlussarbeit geäußert, die er im Rahmen eines mehrjährigen Zusatzstudiums „über Leitungstätigkeit im Gesundheits- und Sozialwesen“ an der Bezirksakademie Dresden verfasst hatte: Die Bosse-Klinik sei als Geburtsklinik ungeeignet. Ende 1976 geht der für das Paul-Gerhardt-Stift verantwortliche Oberkirchenrat in der Inneren Mission, dem an guten Beziehungen zur benachbarten Bosse-Klinik gelegen ist, in den Ruhestand.

Die verschiedenen Versionen des Rauswurfs von Paul Bosse sind wiedergegeben aus Böhmer (1978, 1983, 1988, 2009) in 3, 4, 5 und 6. Sie alle basieren auf denselben Dokumenten! Schon die 1978er Version (3) eine Weißwaschungsschrift für das Paul-Gerhardt-Stift, deutet aber an, dass es möglicherweise neben anderen Gründen „die jüdische Frau“ ist, die „die Ursache dieser Kündigung“ darstellt, zu der „die Vertreter von Stadt- und Landkreis“ gedrängt hätten. Die 1983er Version (4) kommt ganz ohne Nationalsozialisten bei der Kündigung aus. Ungeniert wird hier die Argumentation aus dem „Dritten Reich“ übernommen und zugespitzt, so dass am Ende aus dem Opfer Paul Bosse der Täter geworden ist, der durch sein Verhalten das Paul-Gerhardt-Stift gezwungen habe, die Kündigung auszusprechen. Die 1988er Version (5) berichtigt diese offensichtlich unhaltbare Argumentation und führt wieder die „jüdische Frau“ ein. Auf “den auslaufenden Arbeitsvertrag“, der schon 1935 offizielle Sprachregelung ist, will Böhmer weiterhin nicht verzichten – was soll man von einem Chefarzt halten, dem man keinen unbefristeten Arbeitsvertrag gibt. „Die Gründe waren vielschichtig“ (für die Kündigung) versucht er Raum für Phantasien, für die „vielen Vorwürfe“ zu öffnen. Noch 2009, da ist Böhmer MP von Sachsen-Anhalt, beharrt er auf dem unveränderten Nachdruck seines Aufsatzes von 1988 in einem Sammelband (6); lediglich einen Teil des bei der Stolpersteinverlegung verlesenen 'Schuldanerkenntnis' als Anmerkung konzediert er. Am Ende muss er nachgeben (7).

Böhmer hat mehrere Gelegenheiten verstreichen lassen, sich zu korrigieren und sein Bedauern auszudrücken. Stadt und evangelische Kirche Wittenberg haben seit den 1980er Jahren von seinen weißwässerischen geschichtsverfälschenden Behauptungen in Bezug auf den ehemaligen Chefarzt des Paul-Gerhardt-Stifts Paul Bosse profitiert. Deswegen ist es für die Kirche so schwierig, sich davon zu distanzieren, ohne die eigene Rolle zu thematisieren. Es erklärt jedoch, warum die Aufklärung im Jahr 1945 steckenbleibt und die Interpretation des heutigen Gutachtens durch kirchliche Vertreter Böhmers Schrift von 1988 in der Weise berücksichtigen muss, nicht zu sehr in Widerspruch hierzu zu geraten. Dies ist Teil der „aktuellen Gedenkkultur“, von der im Artikel der MZ die Rede ist, auch wenn es so nicht gemeint war.


Literatur:

(1) und (2) aus der Regionalausgabe Wittenberg-Gräfenhainichen der Tageszeitung
                              "Mitteldeutsche Zeitung"
                              Herausgeber
                              Prof. Alfred Neven DuMont (im Mai 2015 verstorben),
                              Christian DuMont Schütte, Isabella Neven DuMont
                              Verlag und Redaktion:
                              Mediengruppe Mitteldeutsche Zeitung GmbH&Co. KG,
                              Delitzscher Str. 65, 06112 Halle/Saale
                              Chefredakteur: Hartmut Augustin
                              aus den Ausgaben:
                              (1) vom 25.01.2017, S. 7
                              (2) vom 04.02.2017, S. 9

(3) Böhmer, Wolfgang, Das Krankenhaus PAUL-GERHARDT-STIFT im Wandel der Zeiten,
                               S. 41, Maschinenschrift, Wittenberg 1978.

(4) Böhmer, Wolfgang, Das Krankenhaus Paul-Gerhardt-Stift im Wandel der Zeiten,
                               S. 82 und 83,
                               in: Peter Gierra (Hg.), Impulse zur Diakonie in der Lutherstadt
                               Wittenberg, S. 40–104, Berlin 1983.

(5) Böhmer, Wolfgang et al., Zur Geschichte des Wittenberger Gesundheits- und
                              Sozialwesens,
                              Teil IV - Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts, S. 50,
                              Lutherstadt Wittenberg 1988.

(6) Böhmer, Wolfgang et al., Zur Geschichte des Wittenberger Gesundheits- und
                              Sozialwesens.- Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts, S. 276,
                              in Böhmer, Wolfgang und Wurda, Andreas (Hrg.),
                              Das heilkundige Wittenberg, S. 226–327, Wittenberg 2009.

(7) Stummeyer, Detlev und Ute, Paul Bosse. Seine Klinik in Wittenberg. Unerwünschte
                               Wahrheitssuche, S. 52–56, Norderstedt 2015.


neu 19.03.2017
URL:
http://www.paul-und-kaete-bosse.de/pkb-aufarbeitung/pkb_aufarbeitung_boehmer.html

StartseiteImpressum und Kontakt | Sitemap   
Seitenanfang